Samstag, 18. März 2023
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„Stille (Personal)-Reserve aufbauen“

„Stille (Personal)-Reserve aufbauen“
Amtsarzt Patrick Larscheid in seiner Amtsstube Foto: bs

Reinickendorf – Fast drei Jahre hat uns die Pandemie in Atem gehalten. Ist sie jetzt weg? Der Amtsarzt von Reinickendorf, Patrick Larscheid, hat sich oft in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet und auch der RAZ häufig Auskunft gegeben. Zu Hochzeiten der Pandemie hatte das Gesundheitsamt mehr als 200 Mitarbeiter, jetzt sind es noch 144.

Haben wir die gefährlichste Zeit der Covid-Infektionen überstanden oder kommt da noch was?

Ganz klar haben wir diese Zeit überstanden. Glücklicherweise schon seit längerer Zeit. Der Grund dafür ist simpel: Wir haben die positiven Effekte der relativ flächigen Impfung innerhalb der Bevölkerung. Vor allen Dingen in den Teilen, in denen es darauf ankommt, weil sie am meisten gefährdet sind. Wir haben in der Bevölkerung eine sehr breite Immunität, auch durch erfolgte Infektionen. Wir nennen Impfung plus Infektion hybride Immunität. Der derzeit zirkulierende Variantentyp des Erregers ist auch weniger bedrohlich als die Form des Erregers, die wir 2020 hatten.

Sie haben sich recht früh gegen Kindergarten- und Schulschließungen während der Pandemie ausgesprochen. Warum?

Das hat zwei Gründe. Zum einen war uns schon sehr früh klar, dass Kinder und jüngere Schüler sich vor allem im häuslichen Umfeld ansteckten. Das war eine ganz wichtige Erkenntnis. Kinder waren füreinander nicht sehr gefährlich, und sie waren es auch nicht für die Erziehungs- und Lehrkräfte. Das ist der biologische Teil. Der zweite Teil ist, dass es ein massives Betreuungsproblem gab. Das hatte Auswirkungen auf unser gesamtes öffentliches Leben. Es hat aber für viele Kinder, um die wir uns in den Gesundheitsämtern besonders zu kümmern haben, noch einen anderen Aspekt. Sie waren plötzlich komplett ihren Eltern ausgesetzt. Das klingt hart, aber Schulen und Kitas sind eben auch Orte, wo Kinder meistens gut aufgehoben sind. Es sind auch die Orte, wo wir, die wir uns berufshalber um das Wohl von Kindern kümmern, sehr viel mitbekommen über das, was zu Hause läuft. Diese Einsichten fehlten in der Zeit der Schließungen.

Sie stehen als Amtsarzt auch der Beratungsstelle für Kinder- und Jugendpsychiatrie vor. Was für weitere Auswirkungen haben die Schließungen gehabt?

Wir sind sehr dankbar, dass es dazu auch eine Forschungslage gibt, die belegt, was wir sehen und erfahren haben. Viele Kinder haben sich verändert. In den Gesundheitsämtern sehen wir deutlich, dass wir immer mehr Kinder mit – so sagen wir – komplexen Problemlagen haben. Einfach gesagt, die Kinder haben sehr viel mehr Schwierigkeiten mit sich und ihrem Umfeld, als es vor der Pandemie üblich war.

Können Sie Beispiele nennen?

Wir sehen hier Kinder, die erhebliche Entwicklungsverzögerungen haben. Es gibt Kinder, denen fehlen im Einschulungsalter etwa ein Jahr in der geistigen und körperlichen Entwicklung. Das ist enorm viel in diesem Alter, weil sich gerade dann alles in Riesenschritten vollzieht. Es gibt Schwierigkeiten im Bereich der Sprache und psychiatrische Störungen.

Was kann das Gesundheitsamt Reinickendorf dagegen unternehmen?

Das Gesundheitsamt ist vor allen Dingen eine Einrichtung der Vorbeugung. An dieser Stelle haben wir sehr wenig Einflussmöglichkeiten. Wir vermitteln entsprechende Hilfe und Unterstützung und erheben politisch unsere Stimme, weil wir mit den Erkenntnissen, die wir haben, politisches Handeln beeinflussen wollen. Das ist immer noch die beste Prävention.

Wenn man Störungen bei Kindern bemerkt, wie kann Hilfe angefordert werden?

Fast alle Kinder sehen wir, wenn sie eingeschult werden. Wir haben darüber hinaus im Gesundheitsamt die schon erwähnte Beratungsstelle für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie eine Beratungsstelle für Menschen mit Sprachbehinderung. Immer dann, wenn ein Kind in großer Not und Gefahr ist, kann man sich auch an das Kinderschutzteam des Bezirks wenden. Die Telefonnummern sind auf den Websites des Gesundheits- und Jugendamtes zu finden. Das sind die richtigen Stellen, wenn man das Gefühl hat, es muss etwas in den nächsten Tagen passieren.

In einem früheren Interview mit der RAZ haben Sie einmal gesagt, die Bevölkerung sei mit der Pandemie ganz gut umgegangen, aber mit den Politikern waren Sie nicht zufrieden. Was haben wir für die nächste Pandemie gelernt?

Wir wissen sehr genau, was wir anders machen müssen. Wir müssen zukünftig unser Personal anders planen. Das heißt in erster Linie, wir müssen ständig Personal in der Hinterhand haben, dass auch ausgebildet ist und wir schnell aktivieren können. Das ist eine Denkweise, die in Deutschland nicht so verbreitet ist. Pandemien haben recht einförmige Abläufe. Es ist ziemlich egal, welcher Erreger gerade eine Rolle spielt. Die Bekämpfungsmechanismen sind immer dieselben. Dafür muss das nötige Personal in Übung gehalten werden. So machen es übrigens die Japaner bei der Erdbebenvorsorge. Es gibt dort überall Menschen, die im Falle eines Erdbebens genau wissen, was zu tun ist, wenn es kracht. So ein System der stillen Reserve sollten wir auch für Pandemien aufbauen.

Zum Abschluss eine Frage zum Maskentragen. Ist das noch nötig?

Ja, im medizinischen Bereich, wo wirklich kranke und verletzliche Menschen sind. Da kann man auch weiterhin über eine Maskenpflicht nachdenken. In der Allgemeinbevölkerung profitieren wir nur noch sehr wenig von der Maske. Dieser Erreger ist einfach da und wird nicht mehr weggehen. Es kann allerdings eine durchaus gute Entscheidung von jedem einzelnen sein, eine Maske in der Öffentlichkeit zu tragen, wenn er selbst erkältet ist. So schützt er andere vor Ansteckung. Auch banale Erkältungen braucht kein Mensch. Wir werden uns auch noch genug im privaten Umfeld anstecken. Aber eine Pflicht daraus zu machen ist nur gerechtfertigt, wenn wir ein großes gemeinsames Ziel haben. Dieses Ziel bestand aus der Vermeidung einer Überlastung des medizinischen Versorgungssystems, als es noch keine Impfungen gab.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview Bertram Schwarz

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