Samstag, 18. März 2023
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Ein Sexshop als Bezirkskulturerbe?

Ein Sexshop als Bezirkskulturerbe?
Dreifaltigkeit im Rotlichtviertel: Amsterdam ließ grüßen Foto: du

Vorab ein Zeitsprung in den Muff der 50er Jahre: Hilde Knef bekam Morddrohungen wegen Nacktsekunden im Film „Die Sünderin“. Ein Hannoveraner Hautarzt erlitt eine Hausdurchsuchung wegen Pornoheftchen, die er für Spermaproben seiner Patienten benötigte und Volksaufklärer Oswalt Kolle musste wegen „Elternkuppelei“ nach Holland fliehen.

Zur selben Zeit hängte ein leicht verruchter Bahnhofsbuchhandel abartige Verbal-Voyeurs-Blätter wie die „Neue Gerichtszeitung“ aus. Derweil organisierte der Verein „Wir und das Menschliche e. V.“ unter großer Verschwiegenheit Sexkontakte – auch für ungezählte Kriegerwitwen. Und die aufklärerische Grundlage des Autors bildete buchstäblich eine Straßen-Aufklärung bei Radtouren mit den Schulkumpels.

Jetzt liefen beim Studentenball „Zinnober“ mundunartige Schwarzweiß-Filmchen vor dichtgedrängten Studentenmassen – frei nach dem Biermann-Motto „Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.“ Auch der Autor hat sich als Jungmann im Bewusstsein des Verruchten mitunter an den Schaufenstern einschlägiger Läden die Nase plattgedrückt. Doch was sollten sie Phantasie-Futter unter strengen Jugendschutz-Auflagen schon ausstellen? Etwas Reit-Zubehör, schlüpfrige Buchtitel, vielleicht ein frivoles Stück Stoff und erste Primitiv-Vibratoren.

Drinnen ging’s – Reinickendorf war da eher reinlich – nicht selten schlüpfrig zu: Nur Männer. Mitunter halbdunkles Schmuddel geschwängert von Zigarettenqualm vermischt mit Gummi-Geruch. In Cellophan eingeschweißte Pornohefte verpflichteten zum Kauf nach Öffnen. Doch selbst offen abgewetzte Druckwerke fanden im geteilten Berlin noch ihre Abnehmer. Motto: „Macht nüscht – is Bückware für’n Osten“, wo die Sexual-Gesetzgebung im Übrigen deutlich früher freizügiger war.

Nach zwei, drei Jahrzehnten verschwanden die Sex-Shops im Westen wieder. Den Bewegtbild-Part übernahmen Videotheken wie in der Oranienburger Straße/Ecke Wilhelmsruher Damm, aber auch das ist längst Vergangenheit. Ob beide Geschäfts-Modelle in die imaginäre Liste des bezirklichen Kultur-Erbes aufgenommen gehören, sei dahingestellt …

Jahrzehnte später verkaufen Drogeriemarkketten offen Intim-Vibratoren und die Stadtbücherei stellt erotische Literatur ins Regal. Von der Volkshochschule Reinickendorf hängt ein offizielles Zertifikat zum Kurs „Knisterfaktor“ beim Autor an der Wand.

Conny Chronowitz

Gefundene Standorte im Beitrag | Berlin, Reinickendorf