Dienstag, 06. Juni 2023
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Kirchenglocken gestohlen!

Kirchenglocken gestohlen!
Gestohlen: Die beiden Glocken, die jahrelang zum Gottesdienst läuteten. Foto: Gemeinde

Wittenau – Das Einzige, was von der evangelischen Kirche am Eichhorster Weg noch übriggeblieben ist, ist ein großer Steinhaufen und zwei vergessene Hinweisschilder am Zaun. Das eine zeigt an, dass hier früher die „Evangelischen Felsen-Kirchengemeinde“ zu Hause war und das andere Schild weist den Weg, wo es zum Eingang des Gotteshauses ging.

Bis zum ersten Novemberwochenende lagerten auf dem Abbruchgelände in der hinteren Ecke auch die beiden abgehängten Bronzeglocken, die einer Kirche in Brandenburg versprochen worden waren. Doch die wurden in der Zeit vom 5. bis zum 7. November gestohlen. Die Polizei fand nach Auskunft der Pfarrerin Barbara Fülle keine Spuren eines Baggers oder eines ähnlichen Gerätes. Immerhin wogen die Glocken zusammen 800 Kilogramm.

Fülle hat wenig Hoffnung, die beiden Glocken wiederzubekommen. Sie vermutet, dass sie längst eingeschmolzen sind. Der Materialwert soll nach Schätzung der Polizei bei 5.000 Euro liegen. In der Nachbarschaft hatte niemand etwas mitbekommen. Die Pfarrerin entwarf ein Flugblatt als Suchanzeige und verteilte es: „Hinweise gern an das Gemeindebüro Tel. 402 50 95 Finsterwalder Str. 66“. Die ursprünglichen Glocken wurden 1937, bei der Einweihung der Kirche, in Dienst genommen. Allerdings waren diese „im Krieg der Rüstungsindustrie zum Opfer gefallen“, wie es in einer Broschüre von 1987 zum fünfzigsten Jahrestag heißt. Sie wurden eingeschmolzen.

Gleich nach dem Krieg machten sich die Gemeindemitglieder auf, Ersatzglocken zu finden, die dem Rüstungswahn entgangen waren. Die erste fanden sie auf einem Hamburger Schrottplatz, die zweite kam ein paar Jahre später hinzu. Pfarrerin Fülle ist betrübt, dass diese Erinnerung an die niedergelegte Kirche nun auch von wenig Gutgläubigen eingeschmolzen wurde. Sie ist aber eine tatkräftige Frau mit tiefer Stimme, die sich auf keinen Fall frustriert zeigen will. Sie ist Seelsorgerin mit Leib und Seele und sieht ihre Aufgabe in erster Linie in der Zusprache an Christen im Gottesdienst.

Sie wuchs in der Nähe von Leipzig auf und kam 1987 als Kind nach West-Berlin. Sie ging in Reinickendorf zur Schule und studierte danach in Berlin Theologie. Ihre erste kirchliche Aufgabe übernahm sie in einem Krankenhaus in Potsdam. Dort blieb sie sieben Jahre, bevor sie für weitere sieben Jahre in eine Gemeinde nach Liebenwalde ging. Vor sechs Jahren kam sie zurück nach Reinickendorf und predigt seitdem in der Kirche am Seggeluchbecken. Vor drei Jahren ergab sich eine Vakanz in der schlichten Kirche am Eichhorster Weg. Sie sprang ein und wurde zur ständigen Vertretung. Doch die Kirche war „baulich marode“ und musste deswegen „zurückgebaut“ werden, was dieses Jahr geschah. Der Bagger steht noch auf dem Gelände.

Mit einiger Wehmut schaut sie auf die „Entwidmung“ im Mai zurück. Der Amtierende Superintendent Volker Lübke gestaltete den festlichen Abschiedsgottesdienst. Fülle erinnert sich an den „bewegenden Moment“, als die Bibel vom Altar genommen und die Taufschale hinausgetragen wurde: „Das war der endgültige Abschied von diesem kirchlichen Standort.“

Die Pfarrerin fängt sich schnell wieder und erzählt voller Begeisterung von den Zukunftsplänen an diesem Ort. Es soll für das umliegende Wohngebiet eine Kita mit Plätzen für 56 Kinder entstehen. Wenn alles gutgeht, können die Türen Anfang 2025 geöffnet werden. Die evangelische Kirche wird der Träger sein.

So ganz kann sie den Diebstahl der Glocken aber nicht verdrängen und erzählt von einer Einbruchserie im Sommer 2021 in kirchlichen Einrichtungen in der Umgebung: „Aber da gab es nicht viel mitzunehmen.“ Einmal seien Briefmarken und Kaffee gestohlen worden. „Den Wein für das Abendmahl haben sie dagelassen“, sagt Fülle. Der eigentliche Schaden sei das gewaltsame Eindringen gewesen.

Nun steht sie in dem sandigen Boden mit Schneeflecken neben dem Steinhaufen und kann es immer noch nicht ganz fassen, dass Menschen sich an den Glocken vergriffen haben, die jahrzehntelang zu Taufen, Konfirmationen und Hochzeiten läuteten und Freude verbreiteten.

bs

Pfarrerin Barbara Fülle an dem Ort, an dem bis Mai die Evangelische Kirche am Eichorster Weg stand. Foto: bs

Gefundene Standorte im Beitrag | Berlin, Reinickendorf