
Wittenau – Noch bis zum 30. Juli arbeiten sich 15 junge Menschen durch ein grünes Dickicht auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Sie beseitigen Totholz auf schmalen Wegen und im Gebüsch auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof.
Aus insgesamt sieben Ländern haben sich auf Vermittlung der Ökumenischen Jugenddienste junge Erwachsene gefunden, die im Fuchsbau untergebracht sind und tagsüber einerseits den ehemaligen Friedhof pflegen und andererseits Berlin und die jeweils anderen Herkunftsländer kennenlernen.
„Abends stellen wir unsere Länder mit Spielen und vielen Informationen vor“, sagt Lili Mester. Die Ungarin ist eine der ehrenamtlichen Koordinatorinnen des Camps. Sie hat in Österreich ein Studium für Hotellerie und Tourismus absolviert und will im Herbst in ihrer Heimat beruflich durchstarten.
Jetzt hilft sie in Berlin mit, eine Sehenswürdigkeit zu pflegen, die schön ist und zugleich eine schreckliche Geschichte hat. Gerade bei den aktuellen heißen Temperaturen ist das weitläufige Gelände der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eine grüne Oase, und der ehemalige Anstaltsfriedhof ein geheimnisvoll verwunschener Ort.
Wobei das Geheimnis auf eine schlimme Vergangenheit verweist: Viele der hier begrabenen Menschen wurden Opfer der Euthanasie während des Nationalsozialismus. Sie galten wegen körperlicher Behinderungen und psychischer Beeinträchtigungen als „lebensunwert“, starben an Medikamentenmissbrauch oder durch Vernachlässigung.
Dass der Friedhof seit Jahresbeginn offiziell der „Gedenkort Alter Anstaltsfriedhof“ ist, liegt vor allem am Engagement der ehemaligen Lehrerin und Pfarrerin Irmela Orland. Sie stieß in den 1980er Jahren im Rahmen eines Schulprojektes am Georg-Herwegh-Gymnasium auf den 1880 mit der Anstalt eröffneten Friedhof. „Bei vielen Reinickendorfern galt er als Armenfriedhof“, erinnert sich Irmela Orland. Doch je mehr sie und ihre Schüler sich in vielen Projekten mittels vorhandener Kirchenbücher und anderer Akten mit den Biographien befassten, desto mehr zeichnete sich das Bild eines Ortes des Grauens ab.
Da war zum Beispiel die 36-jährige vierfache Mutter mit eigenem Haus aus Weißensee, die unter den Belastungen des Zweiten Weltkriegs und der Abwesenheit ihres Mannes, eines Soldaten, zusammenbrach. Eingewiesen in die Nervenheilanstalt, starb sie schon drei Wochen später – angeblich an einer Syphiliserkrankung. Ein fast noch jugendlicher Patient, ebenfalls bald nach Einweisung „verstorben“, war wegen Sachbeschädigung „auffällig“ geworden. Recherchen ergaben, dass er als Soldat sein Gewehr zerstört und Vorgesetzten gegenüber geäußert hatte, dass der Krieg verloren sei. Vermutlich wurden rund 40 Prozent der allein zwischen 1939 und 1945 in der Anstalt verstorbenen 4.607 Menschen hier bestattet.
Die Recherchen der Pfarrerin und der Schüler ergaben auch, dass viele Angehörige sich intensiv nach dem Schicksal der Patienten erkundigten – meist vergeblich. Auch gescheiterte Bemühungen, Patienten in anderen Kliniken oder näher bei ihren Familien unterzubringen, sind dokumentiert.
Die Recherchen von Irmela Orland, die den Freundeskreis Gedenkort Alter Anstaltsfriedhof gegründet hat, kamen anfangs nicht überall gut an. Der landeseigene Krankenhauskonzern Vivantes, der das Gelände vermarkten wollte, war ebenso wenig an der Aufarbeitung der Geschichte interessiert wie Verwaltung und Politik. Erst mit der Unterstützung der SPD-Verordneten Sabine Burk gelang es, in Kreisen der Bezirksverordnetenversammlung und des Abgeordnetenhauses und dann darüber hinaus zu sensibilisieren. Einer der engagierten Mitstreiter von Irmela Orland ist Lutz Parey, der sich auch im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge engagiert. Hier schließt sich der Kreis zu den Ökumenischen Jugenddiensten. Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es 1947 ein ökumenisches Aufbaucamp in Frankreich – junge Menschen sollten sich über Grenzen hinweg kennenlernen und die Lasten der Vergangenheit aufarbeiten.
Vertiefte Informationen zum Gedenkort und zu Führungen gibt es unter http://freundeskreis-anstaltsfriedhof.jimdo.com
Christian Schindler