Montag, 25. September 2023
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Die steinernen Kinder der Lidy von Lüttwitz

Die steinernen Kinder der Lidy von Lüttwitz
Skulptur am Rathauseingang (Foto: bod)

Heiligensee/Charlottenburg – So gut wie alle Reinickendorfer sind schon einmal an einem der Kinder von Lidy von Lüttwitz vorbeigekommen, oft ohne es zu beachten. Als „ihre Kinder“ bezeichnete die Bildhauerin, die selbst keine Nachkommen hatte, nämlich ihre Werke.

Vor 120 Jahren kam Lidy Luise Elisabeth Ottilie Lucy Mary von Lüttwitz am 19. Februar 1902 in Berlin zur Welt, wuchs allerdings in Posen auf. Seit ihrer Kindheit war sie fast taub, was sicherlich ihren Blick auf die Welt geschärft hat. Ihr Kunststudium nahm sie 1920 in Berlin auf; nach der Malerei widmete sie sich vier Jahre später der Bildhauerei. 1926 ging Lüttwitz nach Paris für ein weiteres Bildhauerei-Studium an der renommierten École nationale supérieure des beaux-arts. Besonderes beeinflusst wurde sie dort vom kubistischen Maler André Lhote. Zurück in Berlin bezog sie 1932 ein Atelier in Grunewald gemeinsam mit ihrer Kollegin Louise Stomps, mit der sie zunächst eine Liebesbeziehung hatte, die sich zu einer lebenslangen Freundschaft entwickelte. Während der Nazi-Zeit konnten die beiden weiter Kunst schaffen, allerdings ohne die Möglichkeit, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ihre schöpferische Arbeit begann Lüttwitz immer mit dem Material, von dem sie sich leiten ließ. Am Anfang stand selten eine fertige Vorstellung. Mit Titeln wie „Entfaltung“, „Gespalten“, „Loslösung“ oder „Einsicht“ bot sie Raum für Interpretation.

1952 wurde Lüttwitz mit dem Berliner Kunstpreis ausgezeichnet und erhielt kurz darauf den Auftrag für ein Gedenkmonument in Reinickendorf. Bis zur Stunde null 1945 dienten Kriegsdenkmale für die gefallen Soldaten vor allem der Würdigung patriotischer Pflichterfüllung. Erst nach dem totalen – auch moralischen – Zusammenbruch durch den Zweiten Weltkrieg sollten Mahnmale kein Heldentum mehr feiern, sondern waren den Opfern der Schreckensdiktatur gewidmet. In dieser Tradition steht auch das „Mahnmal der Gewalt“ von Lidy von Lüttwitz im Rathauspark. Die eindringliche Skulptur des geschundenen Menschen steht für die zahllosen Ermordeten und Verfolgten der Hitler-Jahre.

Zehn Jahre lang wohnte Lüttwitz in München, bevor sie 1970 nach Altenhohenau bei Wasserburg am Inn zog, gemeinsam mit Louise Stomps, die dort eine mittelalterliche Wassermühle zu ihrem Atelier ausbaute. Die passionierte Motorradfahrerin Stomps, kam mit 87 Jahren durch einen Unfall bei einer ihrer Touren ums Leben. Lüttwitz überlebte ihre Freundin um acht Jahre und erreichte das stolze Alter von 94 – noch in ihren Neunzigern bearbeitete sie auf einem Gerüst Skulpturen.

Obwohl ihr Werk prominent im öffentlichen Raum steht, können die meisten mit ihrem Namen heute kaum noch etwas anfangen. Das Verborgene Museum in Charlottenburg, das sich seit 1986 in Vergessenheit geratenen Künstlerinnen widmete, zeigte 1990 eine Ausstellung mit Lüttwitz-Werken. Seit Januar hat das Museum seine Aufgabe an die Berlinische Galerie übergeben, die hoffentlich dafür Sorge trägt, dass die „Kinder“ der faszinierenden Künstlerin wieder die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erlangen.

Boris Dammer

Das Mahnmal der Gewalt im Rathauspark Foto: bod

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