Dienstag, 26. September 2023
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Sicherungsverwahrte werden Nachbarn

Sicherungsverwahrte werden Nachbarn

Tegel – Der Berliner Senat und die Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel gehen neue Wege. Dies ist im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen, denn die Wege liegen außerhalb der gesicherten Anstaltsmauern. Mit Beginn des Jahres 2021 sollen bis zu zehn Sicherungsverwahrte (SV) in einem ehemaligen Dienstwohnungsgebäude am Bernhard-Lichtenberg-Platz untergebracht werden. Sie besitzen dann weitgehende Eigenständigkeiten gemäß den Richtlinien des offenen Vollzugs. In dem Haus Seidelstraße 34 leben auch reguläre Mieter. Sie sind verunsichert, Anwohner in unmittelbarer Nachbarschaft besorgt.

Das Interesse an der Infoveranstaltung ist entsprechend groß. Justiz-Senatsverwaltung und die JVA-Leitung haben für den 18. November geladen, zuvor an die 400 Einladungen im näheren Wohn­umfeld, von Cité Guynemer, über Seidelstraße, bis Siedlung Waldidyll, verteilt. Rund 80 Interessierte sind in den Kultursaal der JVA gekommen, folgen den einleitenden Ausführungen der Justiz-Staatssekretärin Dr. Daniela Brückner, des Anstaltsleiters Martin Riemer und der Einrichtungsleiterin für die Sicherungsverwahrung, Kerstin Becker. Entgegen vorheriger Absprachen mit dem Justiz-Pressesprecher dürfen auf der Veranstaltung keine Fotos gemacht werden, womit auch der RAZ keine bildlichen Impressionen möglich sind.

Anstaltsleiter Riemer erläutert zunächst das Verfahren. So werde der Bauantrag an das Bezirksamt Reinickendorf in den nächsten Tagen gestellt. Drei ehemalige 5-Zimmer-Wohnungen sollen dann für die Bedürfnisse der so genannten SV’s hergerichtet werden. Ein Justizvollzugsbeamter werde rund um die Uhr vor Ort sein, heißt es. „Wir glauben, dass dies der beste Standort ist“, meint Riemer. Der Betroffene lebe außerhalb der Mauer, aber doch beobachtet. „Wir folgen dem gesetzlichen Auftrag, wonach der Sicherungsverwahrte irgendwann entlassen werden kann“, so der JVA-Leiter weiter.

Apropos gesetzlicher Auftrag: In zwei Beschlüssen aus den Jahren 2011 und 2013 hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes (BverfG) die bis dato geltenden Regelungen der Sicherungsverwahrung für weitgehend verfassungswidrig erklärt, was zu einer Neuregelung auf Länderebene führte. Die Verfassungsrichter fordern nach Verbüßung der Haftstrafe einen „freiheitsorientierten und therapiegerechten Vollzug“. Das Bundesland Berlin hat als erstes reagiert, im März 2013 das Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz verabschiedet. Nach der Theorie sieht man sich nun gleichfalls in der Praxis als Vorreiter, will den vom Gesetzgeber gewollten offenen Vollzug umsetzen. Erfahrungen aus anderen Bundesländern oder Staaten gibt es in derartigen Fällen bisher nicht.

Zurzeit sind 48 Sicherungsverwahrte in einem Neubau im hinteren Bereich der Vollzugsanstalt Tegel untergebracht, übrigens alles Männer. Sie alle haben ihre Freiheitsstrafen, in der Regel zwischen drei und fünfzehn Jahren, verbüßt, werden jetzt sozusagen präventiv verwahrt. „Unsere Aufgabe ist es, sie durch den offenen Vollzug auf das Leben in Freiheit vorzubereiten“, erläutert Einrichtungsleiterin Becker. Jeder, der in den Genuss dieser Übergangsphase kommen wolle, müsse sich vorher mehreren Gutachterprüfungen unterziehen. Zudem bedarf es eines richterlichen Beschlusses. Bei den Männern handele es sich nicht um junge Wilde, so die ehemalige Staatsanwältin. Der Altersdurchschnitt liege bei etwa 60 Jahren, versucht Becker das Gefahrenpotenzial zu minimieren.

Trotz der Erläuterungen zeigen die Nachfragen auf der Veranstaltung viel Verunsicherung. Gerade Eltern bereiten die Pläne Kopfzerbrechen. „Ich bin Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, muss ich mir ernsthaft Sorgen machen?“, fragt eine Teilnehmerin. „Um welche Art Straftäter handelt es sich?“, ergänzt sie. „Ich kann Ihnen die Wahrheit nicht ersparen, zwei Drittel sind Sexualstraftäter“, antwortet Kerstin Becker. Das restliche Drittel sei wegen Gewaltverbrechen verurteilt. Becker bittet die Öffentlichkeit um Vertrauen in das Justizsystem, wonach nur als ungefährlich Eingestuften die Freizügigkeit gewährt wird. Aktuell würden übrigens lediglich drei Insassen über 60 die geforderten Kriterien erfüllen. Außerdem, beruhigt Becker die Anwesenden weiter, gebe es keine statistischen Hinweise, dass vor JVAs eine besondere Kriminalitätsrate herrsche.

In einer gemeinsamen Presserklärung der beiden CDU-Abgeordneten Emine Demirbüken-Wegner und Stephan Schmidt sowie des CDU-Bezirksverordneten Felix Schönebeck plädieren diese dafür, Standorte mit weniger Wohnbebauung und sozialer Infrastruktur in die Überlegungen einzubeziehen. So scheint das letzte Kapitel dieser Geschichte noch nicht geschrieben. ks

Gefundene Standorte im Beitrag | Berlin, Reinickendorf